Elisabeth Scharfenberg, Mitglied im Deutschen Bundestag

Mitglied im Deutschen Bundestag

Pflegeversicherung

Bundestagsrede vom 02. Februar 2007

02.02.2007

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In diesem Hohen Haus werden sehr gerne Zitate benutzt. Wir haben das in den letzten Stunden gemerkt. Ich möchte das heute auch tun, aber ich möchte hier keinen Dichter und Denker zu Wort kommen lassen, sondern ganz einfach die Stimme des Volkes.

Ich beziehe mich damit nicht auf die Debatte zur Gesundheitsreform, die wir heute geführt haben. Das hatte mit der Stimme des Volkes nichts mehr zu tun. Das war eher der Schlachtruf der Großen Koalition.

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Oh!)

Mit der Stimme des Volkes meine ich ganz einfach einen Nachbarn von mir, den ich heute früh im Treppenhaus getroffen habe. Er fragte mich: Was steht denn heute auf der Tagesordnung? Als ich ihm das gesagt hatte, sagte er ganz einfach zu mir: Setzen Sie sich für das Wohl der Menschen ein. - Das war eine ganz klare Ansage und eine berechtigte Forderung, und das ist auch unsere Aufgabe.

Deshalb ist eine erneute Verschiebung der Reform der Pflegeversicherung ganz einfach und ganz klar ein gesellschaftspolitischer Skandal.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Das ist ein Schlag ins Gesicht derer, die dringend auf diese Reform angewiesen sind: ein Schlag ins Gesicht von über 2 Millionen Pflegebedürftigen und deren Angehörigen und ein Schlag ins Gesicht der Pflegekräfte, ob sie professionell oder ehrenamtlich tätig sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Großen Ko-alition, diese Menschen lassen Sie einfach im Regen stehen.

Wie wichtig dieser Regierung das Thema Pflege ist, sehen wir ja an dieser Aktuellen Stunde. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes das Letzte. Das ist nämlich das letzte Thema, über das wir in dieser Sitzungswoche fernab von jedem öffentlichen Interesse debattieren. So also sieht Ihr ungeheures Engagement für die Pflege aus, das Sie ja fortwährend sehr betroffen und mit sehr blumigen Worten beteuern.

Fakt ist aber: Das nimmt Ihnen keiner mehr ab. Fakt ist: Sie kriegen diese Reform nicht auf die Reihe, nicht in diesem Jahr und auch nicht im nächsten Jahr. Fakt ist: Die Pflege sitzt bei dieser Koalition am Katzentisch.

(Zuruf von der SPD: Quatsch!)

Aber die Horrorszenarien eines Aufstands der Alten flimmern durch die Wohnzimmer dieser Nation, und Sie reden an dem Problem völlig vorbei und ignorieren die Ängste der Menschen. Wie bei der Gesundheitsreform verheddern Sie sich schon wieder in albernen Finanzdebatten. Das möchte kein Mensch mehr hören.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])

Es geht bei dieser Reform um nicht weniger als um ein menschenwürdiges Leben - und das auch im Pflegefall. Wir alle wissen ganz genau: In diesem Land ist für viele Pflegebedürftige die Wahrung der Menschenwürde keine Selbstverständlichkeit. - Das ist der Grund dafür, dass wir alle unruhig auch auf unsere eigene Zukunft im Alter sehen. Bei Umfragen geben 30 Prozent aller Befragten an - meine Kollegin Frau Haßelmann hat es vorhin schon angeführt -, dass sie im Pflegefall lieber den Freitod wählen würden. Diese Antwort sollte doch wirklich ausreichen.

Die Pflegebedürftigen, die völlig überlasteten Angehörigen und die Pflegekräfte brauchen jetzt das Signal dieser Regierung, dass sie etwas für die Menschen tun will, und zwar schnell. Aber nein! Nun hört man, es müsse noch ganz viel besprochen werden, zum Beispiel, ob die Dynamisierung der Pflegeleistungen nicht doch zu teuer sei. Da bin ich wirklich fassungslos.

Dann hört man, die Pflegeversicherung habe außerdem 2006 einen Überschuss erzielt; deswegen sei der Zeitdruck nicht mehr so groß. Offensichtlich hat sich für Sie jeglicher Druck in Luft aufgelöst.

Dann hört man, dass Sie, Frau Ministerin, ganz eng mit Frau von der Leyen oder Herrn Seehofer zusammenarbeiten wollen. Mit Herrn Seehofer? Als bayerische Abgeordnete kann ich Ihnen versichern, dass Herr Seehofer derzeit ganz andere, nämlich bayerische Probleme löst. Ich finde es schön, wenn die Ressorts sich absprechen. Aber was, bitte, soll dabei herauskommen, was wir nicht schon wissen?

Wir alle - ich betone: wir alle - haben über die Jahre nun wirklich zur Genüge geredet und getagt und nichts unternommen. Ich nenne nur den "Runden Tisch Pflege" oder den Beirat zur Reform des Pflegebegriffs. Der wird vor Ende 2008 aber nicht zu Potte kommen. Es gibt nichts mehr zu reden. Es gibt kein Erkenntnisproblem mehr. Es gibt zig gute Beispiele dafür, wie gute Pflege transparent und nutzerorientiert funktionieren kann. Es gibt leider auch zig Beispiele dafür, wie schlechte Pflege aussieht. Sie müssen sich jetzt an die Umsetzung der vorhandenen Erkenntnisse machen. Wir Grünen empfehlen Ihnen dazu unser Eckpunktepapier. Wir nennen im Gegensatz zu Ihnen Ross und Reiter.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich sage Ihnen: Wenn Sie meinen, Sie könnten sich auch ohne Pflegereform bis zu den nächsten Wahlen schummeln, dann könnten Sie durchaus recht haben. Sie verspielen damit aber den letzten Rest Vertrauen der Menschen in diese Koalition. Das ist mir, ehrlich gesagt, gleichgültig. Was mir aber nicht gleichgültig ist, ist Ihr Signal an uns alle: Menschenwürdige Pflege ist ein Ziel zweiter, dritter, vielleicht sogar vierter Klasse. Damit setzen Sie die Bereitschaft der Menschen aufs Spiel, sich als Gesellschaft für eine menschenwürdige Pflege verantwortlich zu fühlen und sich dafür zu engagieren. Das, meine Damen und Herren, geht wirklich uns alle an.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE])

Tags: Bundestagsrede
« zurück