Rede anlässl. der 27. Sitzung des Deutschen Bundestags
Herr Präsident! Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Vor gut drei Wochen hat Frau Ministerin Schmidt offiziell bestätigt, dass die Pflegeversicherung im Jahr 2005 ein Defizit von 360 Millionen Euro geschrieben hat.
Angesichts dieser Zahlen bestreitet hier wohl niemand ernsthaft, dass die Pflegeversicherung reformiert werden muss - und zwar dringend.
In welche Richtung das Ganze aber gehen soll, da scheiden sich die Geister zwischen den Fraktionen - auch und besonders zwischen CDU, CSU und SPD.
Einig, verehrte Kolleginnen und Kollegen, können Sie sich jedenfalls nicht sein, sonst hätten wir ja schon längst etwas Konkretes zur Pflegereform gehört.
Meine Damen und Herren,
Wir leben in einer älter werdenden Gesellschaft. Und auch weiterhin wird die Pflegeversicherung nur eine Teilkasko-Versicherung sein.
Das heißt, gute und menschenwürdige Pflege ist finanziell und strukturell eine der wesentlichen Zukunftsaufgaben unserer Gesellschaft. Wir können diese Aufgabe nur schultern, wenn die Pflegeversicherung ein System der Unterstützung und der Solidarität im besten Sinne bietet.
Eine gelungene Pflegereform muss daher im Kern zwei Anforderungen erfüllen:
Erstens: Die Pflegeversicherung muss sich künftig viel mehr als heute an den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen orientieren.
Das bedeutet konkret, dass wir Leistungs- und Qualitätsverbesserungen brauchen. Das heißt etwa
- Neudefinition des Pflegebegriffs - Das heißt mehr Prävention und Reha, - Das heißt Case-Management, - Das heißt bessere Förderung alternativer Neuer Wohnformen, um nur einige Punkte zu nennen.
Zweitens: Die Finanzierung der Pflegeversicherung muss nachhaltig, generationengerecht, vor allem aber sozial ausgewogen sein. Im Kern muss die Pflegeversicherung deshalb ein Solidarsystem bleiben.
Die Große Koalition sollte endlich den Mut zur Ehrlichkeit haben.
Es gibt nämlich zwei Alternativen: Zum einen wird es bereits kurzfristig mehr Geld kosten, wenn nur das heutige Leistungsniveau der Pflegeversicherung gehalten werden soll.Erst recht also, bei einer Ausweitung der Leistungen.
Zum anderen müssen Leistungen gekürzt werden, wenn nicht mehr Geld fließen soll.
So einfach ist das. Warum nennen Sie das Kind nicht endlich beim Namen?
Kurzum, meine Damen und Herren,
Eine Pflege-Reform verdient erst dann ihren Namen, wenn sie eine Finanz- und eine Struktur-Reform beinhaltet.
Im Koalitionsvertrag von Union und SPD finden wir vollmundige Ansagen zur Pflegeversicherung: - Kapitalgedeckte Elemente als Demografiereserve, - Finanzausgleich zwischen Privater und Sozialer Pflegeversicherung, - Leistungsverbesserungen für Demenzkranke, - Bürokratieabbau, usw. usw.
Ich bin schon sehr gespannt darauf, wie das konkret aussehen soll - wahrscheinlich nicht weniger gespannt als die Abgeordneten der Große Koalition selbst.
Besonders optimistisch bin ich nicht. Eines ist nämlich verdächtig: Da steht zwar, dass die Koalition bis zum Sommer 2006 ein - ich zitiere -"Gesetz zur Sicherung einer nachhaltigen und gerechten Finanzierung der Pflegeversicherung" vorlegen will.
Aber, erstens: Hier ist nur von der Finanzierung die Rede. Außerdem haben Sie im Koalitionsvertrag den Absatz zur Finanzierungsseite fein säuberlich vom Absatz zur Leistungsseite getrennt. Zur Leistungsseite keine Rede von einem Zeitplan - geschweige denn von einem Gesetzentwurf.
Und, zweitens glaube ich Ihre Ankündigung erst, wenn der Gesetzentwurf wirklich auf meinem Schreibtisch liegt. Als nämlich Frau Ministerin Schmidt am 9. März das erwähnte Defizit bekannt gab, ließ sie in der Pressemitteilung verlauten - ich zitiere:
"Wir [also die Große Koalition] werden bis 2007 dafür sorgen, dass die Pflegeversicherung [...] an neue Herausforderungen angepasst und ihre Finanzierung für die Zukunft nachhaltig gesichert wird."
Bis 2007. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Für mich heißt das doch nichts anderes, als dass sich die Große Koalition bereits wenige Wochen nach Ihren Versprechungen im Koalitionsvertrag diese Reform im vorgesehenen Zeitraum schon nicht mehr zutraut. Sie wird auf die lange Bank geschoben.
Und das ist nun wirklich das Letzte, was die Pflegeversicherung gebrauchen kann.
Warum verschieben Sie dieses zentrale Projekt, Frau Ministerin, entgegen Ihrer vertraglichen Koalitionsvereinbarung? Worauf warten Sie? Kommen Sie an dieses Rednerpult und erklären Sie uns das!
Den Bürgerinnen und Bürger liegt dieses Thema nämlich gewaltig auf der Seele: - Werden die Beitragssätze steigen? - Wenn ja, was bekommen wir an Leistungen dafür? - Droht etwa eine Kopfprämie - getarnt als "Demografie-Reserve", die die sozial Schwachen mehr belasten wird als die Starken? - Müssen wir schon bald mit weniger Pflegeleistungen rechnen? - Was heißt das konkret für demenzkranke oder behinderte Menschen?
Das sind zentrale Fragen, die die Betroffenen schon lange stellen. Fragen, die Sie hier und heute beantworten können! Nicht nur wir im Parlament warten darauf.
Vielen Dank!