Elisabeth Scharfenberg, Mitglied im Deutschen Bundestag

Mitglied im Deutschen Bundestag

Fachgespräch der bayerischen Landtagsfraktion von Bündnis 90/ Die Grünen

Thema "Illegale Pflege - Häusliche Pflege im Brennpunkt zwischen Kriminalität und Verantwortung"

26.09.2006

"Illegale Pflege: Wirksame Entlastung für pflegende Angehörige schaffen"

Es gilt das gesprochene Wort!

Die grüne Bundestagsfraktion, in der ich pflegepolitische Sprecherin bin, hat am 19. September Grundsatzpositionen zur Pflegereform beschlossen.

Unser Papier trägt den Titel: "Pflege menschenwürdig gestalten - Strukturen verbessern und den Menschen konsequent in den Mittelpunkt stellen."

Ich erwähne dieses Papier nicht, weil ich es hier "verkaufen" will. Und auch nicht, weil ich etwas das eigentliche Thema dieses Fachgesprächs umschiffen möchte.

Ich komme darauf, weil ich das Ziel, menschenwürdige Pflege sicherzustellen, für den übergeordneten Ausgangspunkt auch für das Thema "Illegale Pflege" halte.Man kann in der Diskussion um die Pflegereform immer wieder beobachten, dass man schnell bei Detailfragen landet, besonders gerne bei der Finanzierung. Da möchte ich uns Grüne gar nicht ausnehmen.

Dabei gerät rasch aus dem Blick, dass wir bei allen Überlegungen konsequent die Bedürfnisse und Bedarfe von Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen in den Mittelpunkt stellen müssen.

Natürlich müssen wir dabei auf die Bezahlbarkeit und die finanzielle Nachhaltigkeit achten.

Die Ausgangsfrage sollte aber lauten: Welche Probleme gibt es in der pflegerischen Versorgung? Wie kann man damit umgehen? Und dann: Was ist uns diese Pflege wert?

Diese Überlegung möchte ich bewusst auch dem Thema Illegale Pflege voranstellen. Betrachten wir dieses Thema isoliert unter dem Gesichtspunkt der Schwarzarbeit, werden wir nicht groß vorankommen.

Ich möchte mal drei Thesen voranstellen: 1. Illegale Beschäftigung oder "Schwarzarbeit" ist natürlich auch in der Pflege inakzeptabel.

2. Die Pflegebedürftigen bzw. Angehörigen, die illegale Pflegekräfte beschäftigen, tun dies zumeist aus einem Gefühl höchster privater Not heraus. Und das gilt auch für die Pflegekräfte selbst.

3. Illegale Pflege resultiert nicht zuletzt daraus, dass das Leistungs- und Angebotsspektrum der Pflegeversicherung nicht den individuellen Bedarf trifft oder schlicht zu teuer ist.

Uns verfolgt diese Problematik auch auf der Bundesebene schon sehr lange. Im Juni dieses Jahres haben Irmingard Schewe-Gerigk, frauenpolitische Sprecherin der Grünen, und ich dazu ein Fachgespräch im Bundestag gemacht. Wir haben die illegale Pflege dabei ganz bewusst in den Zusammenhang der notwendigen Entlastung von Frauen in der Pflege gestellt.

Illegale Pflege ist eben nicht einfach da. Nein, sie ist Teil eines komplexen Gefüges von Problemen.

Ohne dass man genaue Zahlen kennt - das liegt beim Thema auf der Hand -, geht man von 60.000 bis 100.000 illegalen Pflegekräften in Deutschland aus. Oftmals werden diese überwiegend weiblichen, osteuropäischen Pflege- oder Haushaltshilfen zu katastrophalen Arbeitsbedingungen beschäftigt. Wir haben es also nicht mit einer Kleinigkeit zu tun.

Mir ist es zu einfach, die Ursache darin zu suchen, dass illegale Pflege kostengünstiger ist als legale. Natürlich spielt das eine wichtige Rolle. Es geht hier aber um mehr als eine Ware, die man einkauft. Es geht um eine absolute familiäre Ausnahmesituation, nämlich Pflege. Und offensichtlich finden die Betroffenen auf dem legalen Pflegemarkt nicht die Angebote, die sie für ihre Situation brauchen.

Schauen wir uns doch mal einen Fall an, wie er typisch sein könnte:

Eine alte Frau, allein in einer Wohnung oder einem Haus lebend. Meist handelt es sich um demenziell Erkrankte, die enorm viel Betreuung und Begleitung brauchen. Die Kinder sind üblicherweise berufstätig, können oder wollen ihren Beruf nicht einschränken oder aufgeben. Sie leben vielleicht auch noch einige Kilometer entfernt. Sie können oder wollen die Mutter nicht bei sich zuhause aufnehmen. Die Mutter will es vielleicht auch nicht.Die Mutter will nicht ins Heim. Die Kinder wollen das auch nicht. Da mögen Kostengründe eine Rolle spielen, vielleicht aber auch der Wunsch der Mutter, zuhause weiterleben und auch sterben zu wollen.

Bevor man direkt in die Problemursachen eines solchen Falls übergeht, sollte man sich einmal die Potenziale klar machen, die durchaus darin stecken:

Meistens existiert nämlich der Wunsch nach einer ambulanten Versorgung der Menschen in einer eigenen Häuslichkeit. Wir alle fordern das Prinzip "ambulant vor stationär". Die Angehörigen sind gewillt und bereit, für diese ambulante Versorgung sowohl Geld als auch Energie zu investieren - nicht aber ihre eigene Berufstätigkeit. Das zeigt uns nicht nur die harte Realität des Erwerbslebens. Die betroffenen Angehörigen müssen und wollen Pflege, Familie und Beruf unter einen Hut bringen. Auch das unterstützen wir doch im Grunde.

Mit welchen Problemen haben die Betroffenen denn nun konkret zu tun, wenn sie die Pflege sicherstellen wollen? Ich will mal nur drei heraus greifen:

1) Weil es sich meistens um demenzkranke Menschen handelt, bekommen sie häufig keine oder keine besonders hohe Pflegestufe. Und das, obwohl diese Menschen eine ganz engmaschige Betreuung brauchen - eigentlich rund um die Uhr.Das liegt vor allem am Pflegebedürftigkeitsbegriff der Pflegeversicherung. Dieser orientiert sich im Wesentlichen an den körperlichen Defiziten der Betroffenen.

2) Wenn die Angehörigen nun eine Rund-um-Versorgung organisieren wollen, werden sie es sehr schwer haben. Professionelle 24-h-Dienstleistungen kann sich kaum jemand leisten. Sie werden aber auch in vielen Fällen keine Anlaufstellen finden, die sie umfassend beraten, was es vor Ort denn so an Pflege- oder Betreuungs-Angeboten gibt. Es tritt auch niemand an sie heran, der ihnen gezielt Hilfe anbietet.Die Pflegekasse berät in der Regel nur über ihre eigenen Leistungen. Die Pflegeversicherung ist aber nur eine Teilkaskoversicherung. Das wird den meisten Menschen leider erst klar, wenn sie vor dem konkreten Problem stehen.Die meisten Kommunen bieten solche Beratungen auch nicht mehr an. Über ehrenamtliche Angebote, von denen es sehr viele und gute gibt, erfährt man meist auch nur schlecht etwas. Ähnlich ist es mit Angeboten alternativer Wohnformen. Kurzum: die Versorgungslandschaft ist extrem unübersichtlich. Die Akteure agieren oftmals nebeneinander her, ohne voneinander zu wissen.

3) Die Angehörigen müssen und wollen außerdem auch noch ihrem Beruf nachgehen. Sie haben schlicht die Zeit nicht, in der sie alles Notwendige organisieren können - geschweige denn die Pflege selbst zu übernehmen.

Dass in solchen Fällen eine illegale Pflegekraft verlockend erscheint, ist zumindest nachvollziehbar, wenn natürlich auch nur eine inakzeptable Scheinlösung.

Es wird noch einmal deutlich, dass die illegale Pflege in den allermeisten Fällen Resultat bekannter Probleme in der Pflege ist, die vor allem auf eine mangelnde Zielgruppenorientierung zurückgehen.

An dieser Stelle nur ein kurzes Wort zur derzeitigen Debatte bei unseren Nachbarn in Österreich, die ja sehr ähnliche Probleme mit illegaler Pflege haben. Meines Wissens soll dort bald eine Verordnung in Kraft treten, diese Pflegekräfte zu legalisieren. Man will damit, den betroffenen Familien die Angst nehmen, dass sie bestraft werden könnten. Das Motiv teile ich durchaus: Wir müssen weg von dieser Logik von "Verbrechen und Strafe".Zumindest für Deutschland wäre ich aber skeptisch, ob sich mit der Legalisierung das Problem von selbst erledigt. Rot-Grün hat ja 2005 im Zuge des Einwanderungsgesetzes die so genannte Ausländer-Beschäftigungs-Verordnung in Kraft gesetzt. Damit können Haushaltshilfen nunmehr quasi legalisiert werden. Aber natürlich müssen dann auch die Kosten und Gehälter der Hilfen entsprechend an deutsche Tarife angepasst werden. Anders geht’s nicht. Dann wird’s aber für die Meisten wieder schlicht zu teuer.

Deswegen bringen wir auch in unserem Positionspapier "Pflege menschenwürdig gestalten" zum Ausdruck, dass es nicht die eine Lösung gibt, sondern wir eine Vielzahl von Strategien verfolgen müssen.

Ich will einige davon mal kurz anreißen. In der folgenden Diskussion können wir das ja noch vertiefen:

Wir brauchen einen neuen Pflegebegriff. Der Pflegebedürftigkeitsbegriff der Pflegeversicherung muss überarbeitet werden. Vor allem brauchen wir ein neues Begutachtungsverfahren. Nicht nur körperliche Defizite, sondern der gesamte Pflegebedarf und auch die Fähigkeiten der Betroffenen müssen erfasst werden. Nur so können wir wirklich herausfinden, was die Betroffenen ganz speziell für Hilfen brauchen oder auch nicht brauchen. Hier stellt sich auch die Frage, ob das heutige 3-Stufen-System noch angemessen ist. Wir plädieren dafür, dass man Modelle entwickelt, die fließende Übergänge ermöglichen.

Wir fordern ein Case-Management. Wir müssen den Betroffenen und ihren Angehörigen Hilfe dafür anbieten, sich im System zurechtzufinden, die richtigen Leistungen zu bekommen, überflüssige wegzulassen usw. Der Einzelne ist in aller Regel allein damit überfordert. Wir wollen deshalb ein Einzelfall- oder Case-Management für alle Pflegebedürftigen einführen. Case-Manager sollen in enger Rücksprache mit den Betroffenen die notwendigen Hilfen auswählen, bündeln und koordinieren. Das muss unseres Erachtens zu einem Regelangebot der Pflegeversicherung werden.

Mehr Vernetzung ist dringend erforderlich. Die Leistungserbringer, Pflegekassen und die Kommunen müssen besser zusammen arbeiten. Heute versickern durch dieses Nebeneinander nicht nur viele Gelder, sondern auch mögliche Synergien.Wir brauchen konsequente Care-Management-Strukturen. Ein Mittel dafür sind beispielsweise Pflege-Konferenzen. Alle relevanten Akteure, das heißt auch Selbsthilfegruppen, Angehörige und bürgerschaftlich Engagierte, müssen an einen Tisch und gemeinsam vereinbaren, was sie für eine gute Pflege vor Ort brauchen, wer was dafür tun muss usw.Wir glauben, die Moderation solcher Konferenzen sollte bei den Kommunen liegen.

Die ambulante Pflege muss gestärkt werden. Wir müssen weg vom Sektoren-Denken: hier ambulant, dort stationär. Deshalb müssen die unterschiedlichen ambulanten und stationären Pflegestufen angeglichen werden. Wir sind dafür, die ambulanten Leistungen in allen drei Stufen anzuheben, v.a. in Stufe I von derzeit ca. 380 € auf 600 €.

Es geht uns um die Stärkung des Prinzips "ambulant vor stationär". Deshalb scheint uns die Senkung der stationären Sätze in den Stufen I und II vertretbar. Das ist sicherlich nicht populär. Wenn wir aber die richtigen Anreize setzen und gleichzeitig das Moment der Nachhaltigkeit nicht vernachlässigen wollen, scheint uns das der einzig gangbare Weg.

Wir brauchen wirksame Entlastungsangebote für pflegende Angehörige. Noch sind die Familien der "Pflegedienst der Nation" schlechthin. Aber unsere Gesellschaft ändert sich. Nicht nur demografisch. Das Familienleben wandelt sich radikal, das Erwerbsleben ohnehin.

Die Angebote in der Pflege müssen viel flexibler werden und sich mehr an die jeweilige familiäre Situation anpassen. Wir müssen diese Angebote, wie etwa im Bereich haushaltsnahe Dienstleistungen, bekannter machen und auch für eine höhere Zahlungsbereitschaft werben.

Wir brauchen einen intelligenten "Pflege- und Hilfe-Mix" aus professioneller, familiärer und ehrenamtlicher Pflege.Wir brauchen einen Ausbau der Tagespflege. Und wir müssen die Angehörigen wirksam darin unterstützen, Familie, Pflege und Beruf vereinbaren zu können und nicht aus dem Beruf in die Pflege gedrängt zu werden.

Auch da gibt es viele Möglichkeiten: Arbeitszeitkonten, vereinfachte Teilzeitregelungen oder nicht zuletzt einen Rechtsanspruch auf eine begrenzte Pflegezeit.

Lassen Sie mich noch einmal zusammenfassen: Wir müssen hin zu einem intelligenten Mix von Maßnahmen und Hilfen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. Das ist meines Erachtens der zentrale Aspekt, um nicht zuletzt auch dem Problem der illegalen Pflege wirksam entgegen treten zu können.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Tags: Bundestagsrede
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